Der verlorene Zwilling
Der 11-jährige, blonde Lars kam in meine Praxis, weil er nachts regelmässig sein Bett einnässt. Ein schlaksiger Junge an der Hand seiner Mutter, der eher scheu und zurückgezogen wirkte. Während seine Mutter über sein Problem sprach, suchte er immer wieder flüchtig meinen Blick. Er schien angespannt und nervös.
Ich lachte Lars an und meinte zu ihm: „Lars, ich glaube, wir beide kommen wunderbar alleine zurecht. Schicken wir deine Mama einen Kaffee trinken?“ Damit war er sofort einverstanden. Nachdem ich Lars erklärt hatte, was er nun gleich erleben wird, räkelte er sich auf den Sessel und schloss erwartungsvoll die Augen.
Lars konnte sich wunderbar entspannen und so begannen wir, seinen Lebensfilm zurückzuspulen und seine innere Welt zu erkunden. Das unerwünschte Gefühl (das Bettnässen) fand Lars unterhalb seines Herzens als schwarze, kleine Schachtel. Wir konnten die Schachtel öffnen und hineinblicken. Er fand darin ein Bild von sich selber, aber es war in der Mitte entzwei gerissen.
„Lass uns doch deinen Inneren Freund fragen, weshalb dein Bild zerrissen ist,“ schlug ich Lars vor. Wir begaben uns in seine innere Welt und erlebten dort eine grosse Überraschung: Lars stiess dort nicht nur auf seinen Inneren Freund, sondern auf “mich selber! Ich bin auch da, aber ich bin noch ein Baby!“
Er fühlte, dass sie beide jetzt gerade sehr traurig sind und bat den inneren Freund um Unterstützung. Die drei unterhielten sich für eine Weile und ich liess ihnen diese Zeit. Lars brach plötzlich heftig in Tränen aus. „Ich mache für ihn ins Bett – für ihn!“ schluchzte er. „Er ist mein Bruder!“
Aus der Vorgeschichte wusste ich aber, dass Lars ein Einzelkind ist. So wies ich ihn an, den kleinen Lars mal ganz lieb in den Arm zu nehmen und ihm einen schönen, warmen Platz in seinem Herzen einzuräumen. Lars tat das und es war berührend zuzusehen, wie er sich selbst innig umarmte. Nach einigen Minuten sagte Lars: „Jetzt ist gut.“
Ein friedliches Lächeln zog über sein Gesicht. Ich schickte Lars mit seinen inneren Augen nochmals zur schwarzen Schachtel unter dem Herzen und bat ihn nachzusehen, was mit dem Foto passiert ist. Die Schachtel war weg. „Ist denn etwas anderes da, anstelle der Schachtel?“ „Ja, jetzt ist dort ein gelber Sonnenstrahl und ein schönes Foto von uns beiden.“
Nach der Sitzung kam die Mutter hinzu und Lars erzählte ihr, was er erlebt hat. „Es war wie ein Traum, Mami, ich habe von einem Bruder geträumt.“ Seine Mutter blickte etwas betreten und offenbarte dann, dass Lars das überlebende Kind von Zwillingen war.
Sein Bruder Lukas ist bei der Geburt gestorben. Um Lars zu schützen, wollten die Eltern ihn nicht mit diesem Wissen belasten – haben aber dabei nicht bedacht, dass Lars dadurch ein wesentlicher Teil von sich selber vorenthalten wurde. Ich bat Lars und seine Mutter, sich jetzt mal fest in den Arm zu nehmen und dem verstorbenen Kind einen Platz zu geben. Dabei flossen viele (wohltuende) Tränen!
Seine Mutter erzählte mir, Lars sei seit diesem Tag viel fröhlicher und kontaktfreudiger – und er habe seither kein einziges Mal mehr eingenässt.
Claudia Dübendorfer
Mit viel Einfühlungsvermögen, Kreativität und Humor nimmt Claudia Kinder und Erwachsene mit auf unvergessliche Entdeckungreisen durch den Film ihres Lebens – mit beeindruckenden Resultaten.