Schlimme Gedanken

Das Mail der Mutter vom 10-jährigen Fabian klang verzweifelt: Ich hoffe, Sie können uns helfen. Mein Sohn Fabian leidet seit einigen Wochen unter ganz schlimmen Gedanken. Es sind Gedanken um Mord und Totschlag, fürchterliche Dinge, die ihn schrecklich quälen. Meine Recherchen bei Google lassen mich vermuten, dass er an einer Gedankenzwangsstörung leidet. Weil es so schlimm ist, waren wir schon beim Hausarzt, mussten zum Notfallpsychiater und in einer Woche hat er einen Ersttermin in einer psychiatrischen Klinik. Wir wollen alles in Bewegung setzen, damit er so schnell wie möglich wieder glücklich sein kann. Bin ich bei Ihnen richtig?

Und wie richtig, denke ich mir, und gebe der verzweifelten Mutter den schnellstmöglichen Termin. Dem Kundendatenblatt entnehme ich, dass der Kleine noch weitere, belastende Anliegen hat: starkes Heimweh, viele Ängste, Schlafstörungen, kann nicht ohne seinen kleinen Bruder schlafen, körperliche Ticks. Eine lange Liste! Einige Tage später sitzen beide in meiner Praxis. Fabian, ein hübscher, intelligenter Junge, allerdings verstört, unsicher, ängstlich. Man sieht ihm an, dass er leidet. Die Mutter, ratlos, hilflos und unter Druck. Man merkt ihr an, dass sie mit ihrem Älteren mitleidet. Im Vorgespräch nehme ich als Erstes mal Druck raus: «Wir sprechen nicht von einer Gedankenzwangsstörung. Wir sprechen einfach über eine Phase.» Der Junge atmet sichtlich auf. Mein Ziel: den Kleinen so schnell wie möglich aus dieser Spirale holen und verhindern, dass er in einer psychiatrischen Klinik den Stempel «mit mir stimmt was nicht» bekommt.

Ich erlebe Fabian als intelligent, mitfühlend, verantwortungsbewusst, extrem lieb. Allen alles recht machen, das wäre ihm am liebsten. Er erzählt mir, dass er die Geschichten von Harry Potter mag, die Filme gesehen hat. Er mag die Werte, die diese Geschichten erzählen: Mut, Freundschaft, der Kampf für das Gute. Toll, danke, denke ich mir, Harry Potter wird mir noch nützlich sein. Wir vereinbaren das erste Zwischenziel: lass uns deine Gedanken kontrollieren, so dass sie nicht mehr dich kontrollieren können. Heimweh, Ängste, Schlafstörungen und Ticks lassen wir mal beiseite. Das eilt nicht.

Mama verlässt den Raum, Fabian erlaubt mir, mit ihm zu arbeiten. Er macht es sich im Sessel bequem und ich erkläre ihm, was wir tun wollen. Fabian wählt die Dinosaurier-3D-Karte, um seine Augen müde zu machen und wir legen los. Ein toller Klient, der Junge. Er macht ganz toll mit, entspannt sich super und taucht ab in seine innere Welt. Eine spannende Welt taucht vor ihm auf; ein Abenteuerspielplatz mit steilen Rutschbahnen, einem grossen Trampolin, einem Hallenbad mit Sprungtürmen. Alles ziemlich waghalsig! Kleine, orange gekleidete Bauarbeiter schwirren herum und bauen weiter aus, bauen neu. Sie erinnern mich an Minions. Fabian schaut sich um, ist begeistert, weiss aber noch nicht so richtig, ob er sich traut, alles auszuprobieren. Wir schaffen das. Er rutscht auf der steilen Rutschbahn und geniesst die bewundernden Blicke seiner kleinen Bauarbeiter, hört ihren Applaus. Derart angespornt geht’s weiter auf das Trampolin, wo er höher springt als je zuvor, angetrieben von den Jubelrufen der Bauarbeiter. Die Sprungtürme arbeitet er ebenfalls ab, getraut sich, vom 10-Meter-Turm zu springen – und fühlt sich super. Ein tolles Gefühl durchströmt ihn, der Jubel und der donnernde Applaus der Bauarbeiter beflügelt ihn. Wir verankern dieses starke Gefühl, er soll es mitnehmen, es soll ihn überall hin begleiten. Wir lassen seine innere Welt zurück, im Wissen, dass seine Bauarbeiter dort fleissig weiterarbeiten und für ihn eine noch tollere Erlebniswelt bauen. Nun wollen wir arbeiten und die Kontrolle über seine Gedanken zurückgewinnen. Ich lasse ihn eintauchen in den Moment, wo gerade ein ganz fürchterlicher Gedanke durch seinen Kopf flitzt. Das Gefühl transformieren wir: er findet es als schwarze Dreiecke im Herz und beiden Knien. Wir arbeiten uns durch seinen Lebensfilm, finden Situationen, lösen sie auf, ziehen diese dunklen, störenden Dreiecke aus dem Körper. Wir ersetzen sie durch strahlend grünes Selbstvertrauen – er findet es in seiner inneren Welt.

Im Mindraum zerstören wir die «Schlechte-Gedanken-Maschine», wir regeln noch Selbstvertrauen, schalten vorsichtshalber schon mal Angst und Heimweh aus und bauen uns eine fröhliche Zuckerwattemaschine, die Leichtigkeit und schöne Gedanken um Holzstäbe wickelt. Ich beobachte Fabian dabei, wie er emsig baut und das Ergebnis testet. Und ich weiss: er schafft das. Du hast toll gearbeitet, Fabian, sage ich zu ihm, lass uns zurück zu deiner inneren Welt gehen. Ich möchte dir dort jemanden vorstellen, den du unbedingt kennenlernen musst. Wir gehen zurück und Fabian entdeckt dort springend auf dem Trampolin seinen inneren Freund. Wir setzen uns mit ihm an den Poolrand und prüfen, ob er diese Objekte auch hatte. Nein, dem inneren Freund geht’s gut. Er freut sich, dass Fabian seine Objekte loslassen konnte. So haben sie zusammen mehr Spass. Fabian freut sich. Die beiden Freunde umarmen sich, spüren ihre Stärke. Die Bauarbeiter haben unterdessen weitergearbeitet und Wasserrutschbahnen gebaut, die noch waghalsiger, noch gefährlicher aussehen. Traust du dich, Fabian? Ja, weil sein innerer Freund auch da ist. Und er will vorspuren. Fabian schaut zu, wie sich sein innerer Freund die Rutschbahn runterstürzt und unten im Wasser auf ihn wartet. Da will er nicht nachstehen und tut es ihm nach. Die Freunde treffen sich im Wasser und feiern ihren Mut. Und die Bauarbeiter applaudieren und jubeln. Und das Gefühl des Muts, der Stärke und des Selbstvertrauens wächst und wächst. Mit diesem tollen Gefühl schicke ich Fabian langsam die Entspannungstreppe hoch. Er ist wieder zurück im Hier und Jetzt, mit roten Wangen, begeistert von dem, was er gerade erlebt hat. Er bekommt von mir ein grünes Bändchen, das ihn jederzeit daran erinnert, wie stark und mutig er ist. Und dass sein innerer Freund bei ihm ist. Zu ihm hält. Wir verabschieden uns, wollen uns in einer Woche wieder sehen.

Drei Tage später das Mail von seiner Mutter: Liebe Claudia, Fabian geht es gut. Ich habe den Termin in der psychiatrischen Klinik abgesagt. Wir werden erstmal abwarten, was in der zweiten Sitzung noch passiert. Fein, gewonnen, denke ich, und freue mich auf den nächsten Termin. Bei unserem zweiten Termin erscheint mir Fabian schon viel grösser, fröhlicher, offener. Er lacht mich an, erzählt. Seine Gedanken kommen zwar noch ab und zu, aber sie sind ihm egal. Sie können mir ja nichts Böses, meint er, das sind ja nur Gedanken. Wunderbar, Fabian, und heute wollen wir schauen, dass diese Gedanken dich gar nicht mehr finden können. Und schalten noch alles andere aus, was du nicht mehr brauchst. Bist du bereit? Oh ja, das ist er. Er freut sich und ist gespannt, was seine Bauarbeiter unterdessen geleistet haben. Und ich nehme mir gedanklich Harry Potter zur Brust, heute muss er herhalten. Wir tauchen wieder ab, seine innere Welt ist noch viel spannender, gefährlicher und bunter geworden. Er und sein innerer Freund stürzen sich vertrauensvoll in alle Abenteuer und fühlen sich so richtig stark. Wir suchen anschliessend nochmals den Körper nach Objekten ab und werden fündig: Kugeln, Sterne, Dreiecke – da ist vieles, was mit Heimweh, Ängsten, Schlafen und Ticks verbunden ist. Wir arbeiten intensiv und fleissig und lösen auf. Fabian weiss, dass wir anschliessend Harry Potter treffen werden. Und dann ist er da, der kleine Zauberer mit der Narbe auf der Stirn. Wir wollen von ihm etwas, ein Zauber, der bewirkt, dass die bösen Gedanken Fabian nicht mehr finden können. Und Harry Potter wäre nicht Harry Potter, wenn ihm dazu nichts einfallen würde. Er schenkt Fabian seinen Tarnumhang. Fabian wird ihn immer tragen und die Gedanken werden ihn einfach nicht mehr finden. Und weil Harry weiss, dass Fabian sich oft um alles Mögliche Sorgen macht, schenkt er ihm einen Patronus: das Schutztier aus dem Zauberstab. Fabians Patronus ist ein Hirsch und weil sein kleiner Bruder eben auch Schutz braucht, bekommt er von Harry auch einen: einen Hasen. So sind beide Jungs bestens geschützt und Fabian muss sich keine Sorgen mehr um seinen kleinen Bruder machen. Der Patronus und die Eltern übernehmen jetzt wieder diesen Job. Fabian geniesst es, diese Verantwortung abgeben zu können.

Wir spielen noch eine Runde Zauber-Quidditch, Fabian hat sich eine starke Mannschaft zusammengestellt. Sie schlägt alle schlechten Gefühle wie Angst, Selbstzweifel, böse Gedanken, Heimweh, Schlafstörungen aus dem Spielfeld ins Nirwana, während er dem goldenen Schnatz nachjagt. Fabian weiss, dass der goldene Schnatz für ihn alle guten, starken Gefühle bereithält: Mut, Selbstvertrauen, Freude, Leichtigkeit. Und während Fabian lautstark dem Schnatz nachhetzt, schleiche ich mich zu meiner Schublade, wo ich alle möglichen Kleinigkeiten für meine kleinen Kunden aufbewahre. Ich horte dort kleine, eiförmige, farbige Gummibälle und hole davon einen goldenen heraus. Und in dem Moment, als Fabian schreit: ich habe ihn! drücke ich ihm den Gummiball in die Hand. Er staunt und lacht und fühlt sich toll. Es wird Zeit, die Treppe hinaufzugehen. Es war eine tolle Sitzung, wir hatten unseren Spass. Und ich weiss, Fabian wird es gut gehen.
Nach einer Woche der dritte Termin. Fabian stürmt in die Praxis, lachend, fröhlich und bringt mir einen Osterhasen. Wie geht es dir, will ich wissen. Er lacht mich an und sagt: super! Seine Symptome sind weg. Alle. Kein Heimweh mehr, er konnte am zweitägigen Schulausflug mit Übernachtung fröhlich teilnehmen. Er schläft alleine, sein Bruder ist gut beschützt. Ticks? Wo denn? Gedanken? Nein, die finden mich nicht mehr. Claudia, es geht mir super. Wir sind so froh, dass wir dich gefunden haben. Beide lächeln, sind entspannt, freuen sich. Die Mutter, wie der Sohn. Und ich auch. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd. So einfach. So schnell. So wirksam.

Claudia Dübendorfer

Mit viel Einfühlungsvermögen, Kreativität und Humor nimmt Claudia Kinder und Erwachsene mit auf unvergessliche Entdeckungreisen durch den Film ihres Lebens – mit beeindruckenden Resultaten.